Während die Auswirkungen invasiver Arten in Ökosystemen auf der ganzen Welt immer deutlicher zutage treten, fällt es Wissenschaftlern und Ökologen immer schwerer zu erklären, wie sich diese Arten so schnell vermehren und in neuen Umgebungen ausbreiten können. Unter ihnen ist die „Hypothese der Feindfreisetzung“ eine der am häufigsten vorgeschlagenen Erklärungen. Diese Hypothese geht davon aus, dass eine Art, wenn sie aus ihrem ursprünglichen Verbreitungsgebiet in eine neue Umgebung wandert, viele ihrer Raubtiere und Parasiten verliert, die sonst ihr Populationswachstum begrenzen würden, was zu einem explosionsartigen Wachstum in ihrem neuen Lebensraum führt.
Wenn eingeführte Arten ihren natürlichen Feinden entkommen, verschaffen sie sich einen Vorteil, der ihnen ein schnelles Gedeihen ermöglicht und somit eine potenzielle Bedrohung für einheimische Arten und Ökosysteme darstellt.
Ökologen weisen darauf hin, dass es neben der Hypothese der feindlichen Freisetzung noch zahlreiche weitere Gründe für den Erfolg invasiver Arten gibt. Beispielsweise weisen manche exotischen Pflanzen ein höheres Wachstumstempo oder eine höhere Samenproduktion auf, können sich aggressiver verbreiten oder sind sogar widerstandsfähiger gegenüber Umweltveränderungen als einheimische Pflanzen – Eigenschaften, die zu ihrem Überleben und ihrer Fortpflanzung beitragen. Darüber hinaus weisen invasive Arten häufig eine größere phänotypische Plastizität wichtiger physiologischer Merkmale auf, was es ihnen ermöglicht, sich an variablere Umgebungen anzupassen.
Untersuchungen belegen, dass sich viele invasive Arten durch effizientere Ressourcennutzung und evolutionäre Anpassung in neuen Umgebungen etablieren können, ohne invasiver zu werden.
Traditionell konzentrierte man sich bei der Hypothese der feindlichen Freisetzung auf ihre Anwendung bei invasiven Pflanzen, es gibt jedoch Hinweise darauf, dass sie auch auf andere biologische Systeme, darunter Fische, Amphibien, Insekten und Krebstiere, gut anwendbar ist. So stellte beispielsweise eine frühe Studie über Blütenpflanzen fest, dass etwa 60 % der wilden Blüten der Art Silene latifolia in Nordamerika nicht von Pflanzenfressern befallen wurden, während in ihrer Heimat Europa 84 % der Pflanzen durch mindestens einen Pflanzenfresser geschädigt wurden.
Darüber hinaus ergab eine Studie mit fast 500 eingeführten Pflanzenarten in den Vereinigten Staaten, dass die Pflanzen in den eingeführten Gebieten im Vergleich zu ihren natürlichen Habitaten eine um 84 % niedrigere Pilzinfektionsrate und eine um 24 % niedrigere Virusinfektionsrate aufwiesen. Diese Daten scheinen die Hypothese der feindlichen Freisetzung zu stützen. Allerdings kann diese Hypothese nicht in allen Fällen den Erfolg von Invasionen vollständig erklären. In manchen Fällen haben einheimische Krankheitserreger, Parasiten und Pflanzenfresser erhebliche biotische Resistenzen gegen potenzielle invasive Arten entwickelt, was die Vorteile der Freisetzung feindlicher Arten zunichte machen kann.
Wenn eine eingeführte Art eng mit einer einheimischen Art verwandt ist, ist es wahrscheinlicher, dass sie dieselben Pflanzenfresser und Krankheitserreger hat, wodurch die Wirksamkeit der Freisetzung feindlicher Arten abnimmt.
Es gibt weitere Theorien über den Erfolg invasiver Arten, die eng mit der Hypothese der Freisetzung feindlicher Arten verwandt sind. Die Hypothese der evolutionär gesteigerten Wettbewerbsfähigkeit (EICA) geht davon aus, dass eingeführte Pflanzen, befreit von der Last des Kampfes gegen Pflanzenfresser, in der Lage sind, Ressourcen auf Eigenschaften wie Wachstum und Samenproduktion umzuverteilen, was sie in ihrer neuen Umgebung konkurrenzfähiger macht. Die Hypothese der neuen Waffen (NWH) geht davon aus, dass einige Pflanzen chemische Abwehrmechanismen entwickelt haben, um in ihrem natürlichen Lebensraum konkurrenzfähig zu bleiben. Diese Abwehrmechanismen sind den einheimischen Arten in der neuen Umgebung unbekannt, was den eingeführten Pflanzen einen Wettbewerbsvorteil verschafft.
Unterstützung für die Hypothese der feindlichen Freisetzung findet sich auch in der erfolgreichen biologischen Kontrolle einiger invasiver Arten. Als beispielsweise Naturschützer versuchten, das invasive Johanniskraut (Hypericum perforatum) unter Kontrolle zu bringen, führten sie einen Blattfresser aus seinem natürlichen Verbreitungsgebiet ein, was für eine effektive biologische Kontrolle sorgte.
Kurz gesagt: Auch wenn die „Hypothese der Feindfreisetzung“ viele erfolgreiche Fälle fremder Arten erklären kann, ist sie aufgrund der Komplexität des Ökosystems keine universelle Erklärung. Unterschiedliche Umgebungen, Konkurrenz zwischen Arten und der Einfluss von Krankheitserregern spielen beim Invasionsprozess eine Rolle. Bei der Erforschung der Biologie dieser invasiven Arten müssen wir uns fragen: Wie können wir in Zukunft das Zusammenleben von Biodiversität und gebietsfremden Arten ins Gleichgewicht bringen?