Archive | 2019
Einleitung: Zeitdiagnostik als Kernfunktion der Sozialwissenschaften
Abstract
Unsere reflektierende Offentlichkeit hat ein Bedurfnis nach Zeit- und Selbstdeutungen. Diese operieren auch dann, wenn sie empirisch angelegt sind, mit Begriffsangeboten. Zeitdiagnosen sind immer der Versuch, ihre Zeit in Gedanken zu erfassen, wie Hegel das in einer postrevolutionaren Phase fur seine sehr stark gegenwartsorientierte Philosophie formuliert hat (Hegel 1970, S. 26). Also sind starke begriffliche Werkzeuge notig. Heute sind Moderne und Postmoderne, Sakularisierung und Individualisierung solche Begriffe, die schon von der Anlage her einen Zeitindex, eine Zeitachse mit sich fuhren, so riskant und spekulativ dies auch gedacht sein mag. Zeitdiagnosen sind, soziologisch gesprochen, so etwas wie Makroanalysen der Gegenwart. Sie drangen durchweg auf einen Gesamtuberblick. Man kann durchaus sagen, dass soziologische Zeitdiagnosen meist auf den grosen Rahmen, namlich den sozialen Wandel, mindestens seit der Industrialisierung zielen. Gerade wegen ihrer diachronischen, nacheinander ordnenden Dimension sind diese Diagnosen so interessant und hilfreich, dass keine Navigation ohne sie die notigen Orientierungspunkte findet. Politikwissenschaftlern geht es um die Grundbegriffe wie Freiheit, Sicherheit, Entscheidung, Urteilskraft, Expertentum, Identitat, Nation, Migration und naturlich Europa. Auch dies sind grose Themen, die aber struktureller oder sagen wir, synchronischer und damit gleichzeitiger, querschnittsmasiger angelegt sind. Sie bedurfen der Erganzung durch den soziologischen Blick. Das Bewusstsein der Diachronizitat, des Durchdringens des Nacheinander der Zeitschranken findet sich ganz ahnlich bei Hannah Arendt, die ihre Zeitdiagnostik in der ihr eigenen halbironischen Tonalitat Zwischen Vergangenheit und Zukunft ansiedelt (Arendt 2012). Das klingt trivialer, als es ist. Zeitdiagnostik ist immer eine Reflexion auf den schwindenden Augenblick, denn ihr scheinbarer Fixpunkt oder Perspektivpunkt ist in der kuhleren und langeren Perspektive der Soziologie nur ein Lidschlag – vorubergehend und geradezu ephemer. Zeitdiagnostik, wie ich sie betreibe, ist daher immer im interdisziplinaren Beruhrungsbereich von Soziologie und politischer Wissenschaft angesiedelt und gewinnt gerade daraus ihre analytischen Potenziale (Beck 2000, S. 11–14).