Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz | 2019
Wenn die Dosis schadet: Akute Vergiftungen
Abstract
Charles Lafarge aß ein Stück Kuchen – kurze Zeit später bekam er starke Bauchkrämpfe undmusste erbrechen. Sein Zustand verschlechterte sich in den kommenden Wochen so, dass die Ärzte ihm nicht mehr helfen konnten. Er verstarb unter Qualen im Januar 1840. Seine Familie und die Polizei verdächtigten seine Ehefrau Marie Lafarge, die dabei beobachtet worden war, wie sie mit einem weißen Pulver hantiert hatte. Der nachfolgende Prozess führte zu einem Urteil, das zum ersten Mal auf Grundlage eines toxikologisch-chemischen Beweises erfolgte. Ein Apotheker bezeugte, dass mit der „Marsh’schen Probe“ Arsen in dem verzehrten Kuchenstück gefunden wurde. Marie Lafarge war damit des Mordes überführt. Seit jeherhabensolchearglistigenVergiftungen die Menschen fasziniert. Sie sind aber nicht nur ein Thema für Kriminalfälle, sondern auch für die notfallmedizinische Praxis. Zudem spornten sie dieWissenschaft an, demGeheimnis der Gifte auf die Spur zu kommen. Dieser Bericht illustriert einen seinerzeit entscheidenden Durchbruch bei der AufklärungvonVergiftungen.Beiderapparativen Analytik als Mittel zur Vergiftungsdiagnostik wie auch bei der Therapie und der Prävention von Vergiftungen hat sich seit jener Zeit vieles zum Besseren entwickelt – besonders erheblich in den vergangenen drei Jahrzehnten. Hierüber soll im vorliegenden Heft berichtet werden. Bis zurMitte der 1990er-Jahrewurden fast alle oralen Vergiftungen regelmäßig mit Giftentfernungsmaßnahmen behandelt. Die Spülung des Magens und das Auslösen von Erbrechen galten als die wichtigsten Behandlungen. Heute wissen wir es besser: Die Komplikationsrisiken dieser Maßnahmen sind in den Blick gerückt und führten zu einer veränderten Risikobewertung. Routinemäßige Magenentleerungsmaßnahmen haben zum Wohle vieler Patientinnen und Patienten damit ausgedient. Spezifische Therapiemaßnahmen wie die Gabe von stoffspezifischwirkenden Antidoten entwickeln sichweiter–wennauch langsam. Ein großer Teil der Vergiftungen kann heute jedoch allein durch leistungsfähige, symptomorientierte notfallund intensivmedizinische Maßnahmen erfolgreich behandelt werden. Der Erkenntniszuwachs bei der Vergiftungsdiagnostik und -therapie wird mit maßgeblicher Vermittlung durch die Giftinformationszentren der Länder laufend und zügig in die klinische Praxis umgesetzt. Sie stellen das aktuelle klinisch-toxikologische Fachwissen rund um die Uhr für Ärztinnen und Ärzte wie auch in Vergiftungsverdachtsfällen für Betroffene selbst bereit. Noch mehr in den Fokus rücken die Giftinformationszentren in jüngster Zeit aus einem zweiten Grund: Sie dokumentieren fachkompetent alle Fälle und können so aktuelle Veränderungen im Vergiftungsgeschehen erkennen und darüber berichten. Allerdings sind sie für diesewichtige Aufgabe bisher noch nicht umfassend ausgestattet, ein Mangel, den es in der nahen Zukunft durch politische Entscheidungen zu beheben gilt. DasThemenheft gliedert sich in einen allgemeinen und einen speziellen Teil. Der einleitende Beitrag (Desel) legt die Dokumentation und Berichterstattung von Vergiftungen in Deutschland dar. Alkoholische Getränke, Arzneimittel und Drogen verursachen die meisten Vergiftungen. Um in Deutschland eine einheitliche Datengrundlage zu schaffen, wird ein nationales Register von Vergiftungen mit harmonisierten Daten der Giftinformationszentren und des Bundesinstituts für Risikobewertung etabliert. Der Artikel von Hahn et al. erläutert nicht nur die Bedeutung dieses Registers, sondern vergleicht auch den Stand des Vergiftungsmonitorings mit dem anderer Länder. Das System der Giftinformationszentren, inklusive derenHistorie, Arbeitsweise und Bedeutung, wird in einemweiteren Beitrag von Hahn et al. erklärt. Trotz der Fortschritte in der Prävention und der medizinischen Versorgung von Vergiftungen sind weitere Maßnahmen, insbesondere bei der Risikokommunikation, zu diskutieren. So zeigt eine aktuelle Studie zur Risikowahrnehmung von toxischen Substanzen in der deutschen Bevölkerung (Jungnickel et al.), dass für Kinder bedeutsame Gefahren, wie beispielsweise Knopfzellenbatterien, Lampenöle oder Flüssigkeiten in E-Zigaretten, vielen Menschen kaum bekannt sind. Auch Informationen können Gegengifte sein. Der spezielle Teil desThemenhefts befasst sichmitbedeutsamenakutenVergiftungen. Tschirdewahn et al. geben einen ÜberblicküberklinischrelevanteArzneimittelvergiftungen. Wie sich das Spektrum der Suchtmittel innerhalb der vergangenen Jahre sowohl in klinischen als auch in forensischen Vergiftungsfällen gewandelt hat, zeigt derBeitrag von Iwersen-Bergmann et al. Auch die Zahl der Verletzungen mit exotischen Gifttieren ist gestiegen. Schaper et al. erklären, dass alle schweren Vergiftungen durch Giftschlangenbisse verursacht wurden, während Bisse oder Stiche von Giftspinnen,