Evangelische Theologie | 2019

Lukas in neuer Perspektive

 

Abstract


Within the past 30 years, the exegesis of the Gospel of Luke has changed considerably. Speaking of a »new perspective« would certainly be premature, but traditional debates that saw Luke as an antipode of Paul seem to be settled. Questions of »salvation and history« or »human perspective on existence« have been replaced by questions about the relationship between Israel and the Christian community, the interpretation of the death of Jesus, women’s lives and Luke’s potential of liberation. Luke’s achievements in preserving the heritage of the beginnings by transformation at the end of the 1st cent. are increasingly being acknowledged. In doing so, Luke proves to be a true frontier runner between Judaism and the pagan world. The »path« he chooses as basic pattern for his theology has provided new exegetical ground. Seit dem Neuaufbruch der Paulusforschung in den 1970er Jahren hat der Begriff »New Perspective« in der exegetischen Literatur Karriere gemacht als Titel, der einen Paradigmenwechsel signalisiert: der »Neuen Paulusperspektive«1 gesellt sich inzwischen eine »New Perspective on James«2 oder eine »New Perspective On The Pastoral Epistles«3 hinzu Gibt es auch so etwas wie eine »New Perspective on Luke«? Die Lukasexegese sieht sich in den letzten 30 Jahren in der Tat mit einer Reihe tiefgreifender Umbrüche konfrontiert Von »Langeweile in der Lukasforschung«4 kann jedenfalls gar keine Rede mehr sein!5 Ob sich dabei jedoch auch schon eine neue Perspektive im Sinne eines neuen Paradigmas erkennen lässt, bleibt fraglich Einigkeit besteht darin, dass die alte Krawallexegese unter der Parole »Hau den Lukas!« inzwischen wohl endgültig der Vergangenheit angehört Längst schon hat sich das Doppelwerk aus dem Banne jener Debatte gelöst, die ausschließlich an der Frage nach »Heil und Geschichte« interessiert war Damit tritt Lukas aber auch aus jener unfruchtbaren Konkurrenz zur Theologie des Paulus heraus, die vor allem die 1950er bis 1970er Jahre beherrschte,6 und gewinnt wieder an eigenem Gewicht Das früher 1 Der Begriff wurde in die Diskussion eingeführt durch J. D. G. Dunn, The New Perspective on Paul, in: Bulletin of the John Rylands Library 65, 1983, 95–122; vgl auch ders , A New Perspective on Jesus What the quest for the historical Jesus missed, Grand Rapids / Mich 2005 2 K.-W. Niebuhr, A New Perspective on James? Neuere Forschungen zum Jakobusbrief, in: ThLZ 129, 2004, 1019–1044 3 J. Herzer, Rearranging The ›House Of God‹ A New Perspective On The Pastoral Epistles, in: Empsychoi logoi – religious innovations in antiquity Studies in honour of P W van der Horst, ed by A Houtman, Leiden 2008, 545–566 4 So M. Rese, Neuere Lukas-Arbeiten, in: ThLZ 106, 1981, 225–237 5 Vgl M. Meiser, »Langeweile« in der Lukasforschung? – Von wegen!, in: Update-Exegese 2 1 Ergebnisse gegenwärtiger Bibelwissenschaft, hg von W Kraus und M Rösel, Leipzig 2015, 145– 153; ferner F. Bovon, Luke the Theologian Thirty-Three Years of Research (1950–1983), Allison Park / PA 1987; W. Radl, Das Lukas-Evangelium, EdF 261, Darmstadt 1988 6 G. Harbsmeier, Unsere Predigt im Spiegel der Apostelgeschichte, in: EvTh 10, 1950/51, 352–368, forderte frei heraus zu einer Entscheidung zwischen Paulus und Lukas auf durchaus einmal abschätzig gemeinte Label »frühkatholischer Theologie« hängt man ihm nicht mehr an Statt dessen gewinnt die Einsicht Raum, dass die Leistung des dritten Evangelisten vor allem in einer notwendigen und verantwortungsvollen Transformation des frühchristlichen Erbes besteht Frei von manchen alten Vorurteilen erfreut sich das lkn Doppelwerk gegenwärtig wieder einer Fülle neuer Fragestellungen, die vor allem sein narratives Profil ernst nehmen Dabei treten einige Themenlinien und Schwerpunkte in den Blick, die im Folgenden skizziert werden sollen I. Literarische Rahmenbedingungen 1. Einzeltext und Gesamtperspektive Die Idee von Luke-Acts als einem zusammengehörigen Werk in zwei Büchern ist noch relativ jung Obwohl nie ernsthaft in Frage stand, dass Evangelium und Apostelgeschichte von ein und demselben Autor stammen, las man beide Schriften, die im Kanon getrennt platziert sind und unterschiedlichen Textsorten angehören, doch stets unabhängig voneinander Erst 1927 wurde der Begriff »Luke-Acts« von Henry Joel Cadbury eingeführt 7 Seither sind Begriff und Sache in der Exegese fest etabliert Der konzeptionelle Zusammenhang eines »Doppelwerkes« bzw einer »zweizügigen Erzählung«8 gehört inzwischen zu den unhinterfragten Voraussetzungen ntl Einleitungswissens Darin lässt sich die vielleicht markanteste Veränderung in der modernen Wahrnehmung beider Bücher erkennen Auch wenn der Zusammenhang zwischen beiden Teilen des Doppelwerkes in jüngster Zeit wieder diskutiert wird,9 bleibt doch die grundlegende Überzeugung bestehen, dass Stilistik und Rhetorik, Narrativität und Theologie, politische Kontextualisierung und intertextuelle Vernetzung einer durchgängigen Strategie verpflichtet sind 10 Nur in der Wahrnehmung dieses Gesamtzusammenhanges lässt sich jeder der beiden Teile auch für sich genommen angemessen verstehen 2. Überlieferung und Textentstehung Seit dem ausgehenden 19 Jh liest man das Lukas-Evangelium vorzugsweise auf der Basis der »Zwei-Quellen-Theorie« Trotz aller offenen Flanken bietet sie nach wie 7 H. J. Cadbury, The making of Luke-Acts, London 1927 8 So K. Löning, Das Geschichtswerk des Lukas I: Israels Hoffnung und Gottes Geheimnisse, II: Der Weg Jesu, [III: Apostelgeschichte, in Vorbereitung], Stuttgart / Berlin / Köln I 1997, II 2006 9 Vgl etwa M. C. Parsons und R. I. Pervo, Rethinking the Unity of Luke and Acts, Minneapolis 1993; P. Walters, The Assumed Authorial Unity of Luke and Acts A Reassessment of the Evidence, SNTS MS 145, Cambridge 2009; M. F. Bird, The Unity of Luke-Acts in Recent Discussion, in: JSNT 29, 2007, 425–448; P. E. Spencer, The Unity of Luke-Acts A Four-Bolted Hermeneutical Hinge, in: Currents in Biblical Research 5, 2007, 341–366 Die Kritiker hinterfragen, ob beide Schriften tatsächlich ein gemeinsames Konzept, ein gemeinsames literarisches Format und selbst einen gemeinsamen Autor haben 10 Vgl für viele andere R. C. Tannehill, The Narrative Unity of Luke-Acts A Literary Interpretation I/II, Philadelphia 1986/1990; The Unity of Luke-Acts, hg von J Verheyden, BETHl 142, Leuven 1999; P. Borgman, The Way acording to Luke Hearing the Whole Story of Luke-Acts, Grand Rapids 2006 ____________________________ Christfried Böttrich _____________________________ 115

Volume 79
Pages 114 - 129
DOI 10.14315/evth-2019-790206
Language English
Journal Evangelische Theologie

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