Evangelische Theologie | 2019

Lutherisches Schriftprinzip im 21. Jahrhundert

 

Abstract


In view of the much-diagnosed crisis of biblical hermeneutics, this article applies ideas of the Lutheran theologian Hermann Sasse (1895–1976) that aim at a reflexion of the reformatory hermeneutic from a confessional point of view to address the challenges of modernity. Sasse agrees with Protestant reformers that the Bible in its entirety is God’s word. Simultaneously he calls for the unlimited acknowledgment of its human character. In Sasse’s view this paradox is based on the incarnation of Jesus Christ. This is why he transfers the Chalcedonian two-natures doctrine to biblical hermeneutics. The result is a hermeneutic of aspects that correlates revelation and history, divine inspiration and human authorship, and clarity and contradictoriness of the Scripture in a differentiated and productive manner. I. Gegenwärtige Anfragen an das Schriftprinzip Die reformatorische Entdeckung Martin Luthers, dass Gott den sündigen Menschen allein aus Gnade rechtfertigt (sola gratia), war aufs Engste mit der Einsicht verbunden, dass die Bibel das Wort Gottes ist, welches sich gegenüber allen anderen Auslegungsautoritäten durchsetzt und darum als die grundlegende Norm für alle Lebensäußerungen der christlichen Kirche zu gelten hat (sola scriptura) 1 Im Anschluss an Luther halten darum auch die lutherischen Bekenntnisschriften fest, dass die Bibel in der Gestalt von Altem und Neuem Testament »alleine die einige warhafftige Richtschnur ist, nach der alle Lerer und Lere zu richten und zu urteilen sein «2 Das »sola scriptura« kann daher als gleichermaßen »kritisches und konstruktives Prinzip reformatorischer Kirchenreform« gelten, das bis in die Gegenwart evangelische Identität definiert und prägt 3 Gleichzeitig lässt sich aber beobachten, dass die Voraussetzungen des reformatorischen Schriftprinzips im Diskurs mit einer pluralistischen und säkularen Gesellschaft auch für viele Christinnen und Christen innerhalb der evangelischen 1 Vgl N. Slenczka, Das Evangelium und die Schrift Überlegungen zum »Schriftprinzip« und zur Behauptung der »Klarheit der Schrift« bei Luther, in: ders , Der Tod Gottes und das Leben der Menschen, Göttingen 2003, 39–64, 54f 2 Vgl FC SD, Vom summarischen Begriff, Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche Vollständige Neuedition Hg v I. Dingel im Auftrag der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland, Göttingen/Bristol 2014 [= BSELK], 1310,6–9 3 Vgl B. Oberdorfer, Das reformatorische Schriftprinzip Historische und gegenwärtige Perspektiven, in: W Damberg u a (Hg ), Gottes Wort in der Geschichte Reformation und Reform der Kirche, Freiburg 2015, 70–82 Kirchen nicht länger selbstverständlich sind, ja mitunter befremdlich wirken Daher ist wiederholt von der Krise des Schriftprinzips die Rede 4 Ein maßgeblicher Grund für diese Krise wird im Aufkommen der historisch-kritischen Methode im 19 Jahrhundert gesehen, die sich in der universitären Theologie im deutschsprachigen Raum weitgehend konkurrenzlos durchgesetzt hat Mit ihr treten die biblischen Schriften verstärkt als Werke menschlicher Autoren in den Blick, die durch das Denken ihrer Zeit geprägt und nur aus diesem Kontext heraus angemessen zu verstehen sind Nach Ernst Troeltsch, einem ihrer großen Vordenker, richtet sich die historische Methode gegen alle Versuche, die Autorität der biblischen Schriften durch den Verweis auf eine übernatürliche Offenbarung dogmatisch abzusichern Die Bibel müsse wie jeder andere historische Text behandelt und im Rahmen eines neuzeitlichen Wirklichkeitsverständnisses verstanden werden 5 Wenn die biblischen Texte aber wie jeder andere Text der Zufälligkeit der Geschichte und Zeitbedingtheit menschlichen Denkens unterworfen sind, wird es höchst fraglich, wie sie für uns noch als sinnund identitätsstiftende Norm dienen sollen Die historisch-kritische Methode hat so zu einem neuem Common Sense im Umgang mit der Bibel geführt, der weit in die Gesellschaft hineinwirkt, wie die folgende Aussage des Kulturphilosophen Andreas Urs Sommermit in einem Interview mit Zeit Campus Online zeigt: »[D]ie historische Kritik der Bibel und der anderen Offenbarungsschriften hat gezeigt, dass diese Werke von Menschen für Menschen geschrieben worden sind Und zwar in einem bestimmten Kontext Deswegen können wir einen Brief des Apostels Paulus, das Buch eines alttestamentlichen Propheten oder eine Sure aus dem Koran heute nicht mehr ohne Zurechtbiegung als Lebensanweisung für unsere Gegenwart verstehen «6 Noch grundsätzlicher wird die normative Funktion des biblischen Kanons aber im Kontext postmoderner Hermeneutik in Frage gestellt Deren »antiautoritäre, destabilisierende und selbstfragmentarisierende Dynamik« richtet sich weiter gegen »vorund antimoderne Prämissen«, dekonstruiert zugleich aber »in bisher ungekannter Intensität Selbstverständlichkeiten neuzeitlicher Bibelexegese«7 Die Rezeptionsästhetik etwa betont, dass der Sinn eines Textes nicht einmalig durch den Autor vorgegeben ist, sondern erst im Akt des Lesens durch die Interaktion mit der Leserin und dem Leser realisiert wird 8 Der von evangelischer Seite vorausgesetzte Literalsinn biblischer Texte, egal ob dogmatisch in der geistgewirkten Klarheit der Schrift oder historisch in der ursprünglichen Intention des Autors begründet, wird hier prinzipiell ange4 So programmatisch bereits W. Pannenberg, Die Krise des Schriftprinzips (1962), in: ders , Grundfragen systematischer Theologie Gesammelte Aufsätze 1, Göttingen 31979, 11–21 Für eine neuere Darstellung der Problemlage vgl F. van Oorschot, Die Krise des Schriftprinzips als Krise der theologischen Enzyklopädie, in: EvTh 76, 2016, 386–400 5 Vgl dazu J. Lauster, Prinzip und Methode Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart (HUTh 46), Tübingen 2004, 239–243 6 »Eine Gesellschaft aus Atheisten könnte perfekt funktionieren«, Interview: Johanna Haag, 19 08 2017 (https://www zeit de/campus/2017-08/atheismus-religion-werte-philosoph-andreasurs-sommer-jung-und-gott [18 11 2018]) 7 S. Scholz, Art Postmoderne I Alttestamentlich/Neutestamentlich, in: O Wischmeyer (Hg ), Lexikon der Bibelhermeneutik Begriffe – Methoden – Theorien – Konzepte, Berlin 2009, 442–444, 443 8 Vgl dazu C. Barnbrock, Rezeptionsästhetik Überlegungen zu ihrer Bedeutung im Rahmen einer lutherischen Hermeneutik, in: LuThK 21, 2007, 105–127 _____________________________ Simon Volkmar ______________________________131

Volume 79
Pages 130 - 144
DOI 10.14315/evth-2019-790207
Language English
Journal Evangelische Theologie

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