Zeitschrift für Evangelische Ethik | 2021

Jenseits des Personalismus

 

Abstract


Schachroboter scheinen für Philosophinnen und Philosophen ein besonders interessantes Sujet zu sein. Walter Benjamin verweist am Anfang seines berühmten Aufsatzes Über den Begriff der Geschichte bekanntlich auf einen Schachautomaten, um das Verhältnis von Theologie und historischem Materialismus zu veranschaulichen.1 Freilich sitzt bei Benjamin im Inneren dieses »Schachtürken« noch ein Mensch, der die Züge der Puppe steuert. Der Schachautomat bei Benjamin ist in Wahrheit gar kein Automat, sondern bloß ein eskamotierter Schachspieler. Knapp fünfzig Jahre nach Benjamins Aufsatz stellt sich die Situation indes gänzlich anders dar. Schachcomputer sind im Jahr 1997 so weit entwickelt, dass sie, wie im Fall Deep Blue gegen Kasparow, selbst einen Schachweltmeister zu schlagen vermögen. Philosophisch und theologisch sind Schachroboter wie Deep Blue insofern besonders interessant, als es sich bei ihnen um »intelligente« Maschinen handelt. Der Schachcomputer führt nicht einfach Anweisungen aus, die von Menschen programmiert wurden, sondern er trifft selbst im Verlauf des Spiels bestimmte Entscheidungen.2 Das Beispiel von Schachcomputern oder, präziser, Schachprogrammen zeigt, dass Maschinen bereits vor zwanzig Jahren so weit entwickelt waren, dass sie menschliches Verhalten nicht nur imitieren, sondern sogar übertreffen konnten. Die rasante Entwicklung der artificial intelligence wirft mittlerweile noch eine wesentlich weiterreichende Frage auf: Können die Entscheidungen, die intelligente Maschinen treffen, auch Gegenstand ethischer Deliberation sein? Diejenige Bereichsethik, die sich mit dem Verhalten intelligenter Maschinen beschäftigt, firmiert meist als Maschinenethik. Sie stellt nicht nur die gegenwärtig jüngste Bereichsethik dar, sondern gehört auch zu den am häufigsten diskutierten. Obwohl die Umrisse dieser Disziplin erst allmählich sichtbar werden – in den Jahren 2018 und 2019 gab es einen signifikanten Anstieg an wissenschaftlichen Arbeiten in diesem Bereich –, zeichnet sich doch bereits ab, dass es sich bei der Maschinenethik nicht bloß um eine Bereichsethik unter anderen, bereits besser etablierten handelt. Insofern hier Maschinen, also nicht-biologische Entitäten, zum Subjekt der Ethik werden, deutet sich vielmehr ein Wandel der Ethik als Wissenschaft insgesamt an. Für jede primär am Menschen orientierte Ethik stellt die Maschinenethik daher eine kaum zu überschätzende Herausforderung dar. Die großen normativen Traditionen, vom antiken Eudämonismus über den Utilitarismus und Kantianismus bis hin zur Verantwortungsethik, weisen ein Vokabular auf, das spezifisch anthropologisch konnotiert ist. Begriffe wie Tugend, Pflicht

Volume 65
Pages 31 - 45
DOI 10.14315/zee-2021-650106
Language English
Journal Zeitschrift für Evangelische Ethik

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