Klaus Tanner
Heidelberg University
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Publication
Featured researches published by Klaus Tanner.
Ruperto Carola | 2015
Paul Kirchhof; Klaus Tanner
Die Methoden zur Analyse des menschlichen Erbguts werden standig verbessert. Sie ermoglichen es Forschern, Veranderungen im Genom zu identifizieren, die fur das Entstehen von Krankheiten verantwortlich sind. Die genetischen Informationen indes sind so weitreichend, dass sie unser Verstandnis von „Krankheit“ und „Gesundheit“ revolutionieren und zu Kontroversen um den verantwortlichen Umgang mit den neuen technischen Moglichkeiten fuhren. Heidelberger Wissenschaftler haben es sich zum Ziel gesetzt, die rechtlichen und ethischen Probleme der Genomforschung zu analysieren und praktikable Vorschlage fur ihre klinische Anwendung zu entwickeln.
Zeitschrift Fur Evangelische Ethik | 2012
Klaus Tanner
Ethische Urteilsbildung ist ohne Normen nicht möglich. Aber alle Normen und Regeln bedürfen der Auslegung, wenn sie ihre orientierende Funktion in konkreten Handlungssituationen entfalten können sollen. Dieser Verweisungszusammenhang von aktueller Herausforderung und gegebener Norm macht die Komplexität ethischer und rechtlicher Urteilsbildung aus. Für jede Norm gilt: Sie kann nicht alle Fälle ihrer möglichen Anwendung mit regeln. Es gibt Interpretationsspielräume; Regeln, Normen und Gesetze werden in permanenten Auslegungsprozessen zugleich konkretisiert und verändert. Diese Auslegungsdynamik ist in der Tatsache begründet, dass es um menschliches Handeln geht. Beim Handeln gibt es, anders als bei logischen Formen, keine lückenlosen und stringenten Strukturen, die ein für allemal bewiesen oder in ihrer Dynamik stillgelegt werden können. Kontingenz, Partikularität und Individualität spielen eine zentrale Rolle. Kein Gesetz kann jede Situation und jeden möglichen Einzelfall gleichsam vorab erfassen. An der richterlichen Rechtssprechung lässt sich dies exemplarisch studieren. Oft kann erst in langwierigen Auslegungsverfahren entschieden werden, was Gesetze jeweils im Hinblick auf einen spezifischen Einzelfall bzw. eine individuelle Lebensgeschichte bedeuten. Offensichtlich ist es alles andere als einfach festzustellen, was genau der Fall ist, wie vorhandene Regeln auf einen vorliegenden Fall zu beziehen sind und welche Konsequenzen dann zu ziehen sind. Die juristische Urteilsfindung, die Stellung einer Diagnose durch den Arzt, die Urteilsbildung eines Politikers, die auf praktische Anwendung zielende Auslegung eines Textes durch einen Theologen sind Beispiele für solche Prozesse der Urteilsbildung, in denen die jeweilige Situiertheit, der spezifische Ort, an dem eine Stellungnahme gefordert ist, eine zentrale Rolle spielen. Jede solche situierte Interpretationsleistung ist angewiesen auf das Wissen um »das Allgemeine in abstracto«, wie Kant formuliert hat. Ob und wie aber »ein Fall in concreto« unter eine allgemeine Regel gehört, ist mit dem Wissen um das »Allgemeine in abstracto« noch nicht geklärt. Ernst Troeltsch schrieb in seiner Abhandlung »Grundprobleme der Ethik«: Zu einer »wirklichen Ethik« wird die Ethik erst, wenn die Ebene der »allgemeinen Anweisung« und »Theorie des allerallgemeinsten Grundbegriffs« überschritten wird und »die in der Erfahrung stattfindenden Anwendungen« verfolgt werden. Die Urteilsbildung werde dabei allerdings auch die »Sicherheit des Grundbegriffs« verlieren. In der Polarität von Wissen um »das Allgemeine in abstracto« und Wissen um die Handlungskonstellation »in concreto« liegt eine unvermeidbare Verunsicherung, an der immer wieder neu die Bedrängnis ethischer Urteilsbildung entsteht. Der vermeintliche Ausweg, den Hans-Georg Gadamer die »dogmatische Versuchung« genannt
Zeitschrift Fur Evangelische Ethik | 2002
Klaus Tanner
»Enthaltsam« sollte die Diskursethik nach Maßgabe ihrer Theoriekonstrukteure sein. Jürgen Habermas plädierte schon vor 15 Jahren für ein »bescheidenes Selbstverständnis der Moraltheorie~< 1 • Alle Versuche, substantielle Antworten auf die Fragen nach dem guten und richtigen Leben allgemeinverbindlich zu begründen, müssten als gescheitert betrachtet werden. Unser existentielles Selbstverständnis mag noch »zehren« von den Bildern gelingenden Lebens, die in den »großen Religionen« und metaphysischen Entwürfen, in den Ethiken und politischen Theorien formuliert worden sind Gültigkeit für alle könnten diese Antworten nicht mehr beanspruchen. Durch philosophische Reflexion ersetzbar seien sie nicht unter den Bedingungen des weltanschaulichen Pluralismus, der Enttraditionalisierung von Normbildungsprozessen, der zunehmenden Individualisierung der Lebensstile und den Rahmenbedingungen eines zur Toleranz verpflichteten weltanschaulich neutralen Verfassungsstaates. Viel könne gesagt werden über die Form von Verständigungsprozessen, wenig aber über die Verbindlichkeit von Inhalten. Schon die Antwort auf die Grundfrage »warum wir überhaupt moralisch sein sollen« müsse die postmetaphysische Moraltheorie schuldig bleiben. Die Zeiten der selbst auferlegten »postmetaphysischen Enthaltsamkeit« sind für Habermas vorbei. Die Biowissenschaften »drängen uns« auf eine neue Stufe der anthropologischen und moraltheoretischen Reflexion, schreibt Habermas in seinem 2001 erschienenen Band »Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?« Das Fortschreiten auf dem Weg des biotechnischen Verfügharrnachens von Grundstrukturen des Lebens provoziert erneut Fragen nach dem »Unverfügbaren«, einem »antiskeptischen Sinn von Unbedingtheit«. Gesucht werden »inhaltliche Stellungnahmen«, die »Orientierungskraft« bei der Suche nach einem »nicht verfehlten Leben« und der »kulturellen Lebensform« haben. Eine andere Enthaltsamkeit muss begründet werden: nicht länger die der Moraltheorie, sondern die »Vorsicht und Enthaltsamkeit~< auf der Ebene des instrumentellen Umgangs mit den natürlichen Grundlagen menschlichen Lebens. In zwei Texten, die auf in Zürich und in Marburg gehaltene Vorlesungen zurückgehen, umkreist Habermas die Probleme, schlägt begriffliche Differenzierungen wie die zwischen »Unantastbarkeit« und »Unverfügbarkeit«, »vorpersonalem« und »personalem<< Leben vor und visiert eine Argumentation für einen strengen Embryonenschutz an, die nicht auf die »Menschenwürde« im Sinne von Art. 1. GG rekurriert. Die Biotechnologien haben begonnen, die sensible Grenze zwischen dem, was wir von Natur aus sind und dem, was wir aus uns machen können, aufzulösen. Was Kant noch als das »Reich der Notwendigkeit« vom »Reich der Freiheit« unterscheiden konnte, wird entdifferenziert durch Praktiken wie die Präimplantationsdiagnostik, die verbrauchende Embryonenforschung oder die Programme zur gentechnischen Veränderung des menschlichen Erbgutes. Eine neue »Art des Selbstbezuges« entsteht bei denen, die allein von ihrem Selbstverständnis her entscheiden über zukünftiges Leben. Damit bildet sich auch ein »bisher unbekannter Typ interpersonaler Beziehungen« bei denen, die für andere irreversible Entscheidungen treffen und damit die grundsätzlich symmetrischen Ausgangsbedingungen jeden personalen Lebensvollzuges asymmetrisch umgestalten. Das Postulat der Symmetrie von Ausgangsbedingungen für handelnde Personen wird von Habermas als unabdingbar notwendig unterstellt für unser Verständnis von Moral und Recht. Dieser Notwendigkeit wird einiges an argumentativer Last aufgebürdet. Habermas versucht die
Zeitschrift Fur Evangelische Ethik | 1999
Klaus Tanner
»Alle fangen mit der Geschichte an. Und zwar früh. Westen und Osten, wir und die, Rom und Byzanz es scheinen ganz gegenwärtige Kategorien zu sein«. Diese Zeilen schrieb der Journalist Egon Scotland im Juli 1991 im beginnenden Krieg zwischen Kroaten und Serben, kurz bevor er, vermutlich von Serben, erschossen wurde. Seinen letzten Artikel für die Süddeutsche Zeitung verfaßte er in Pristina über die »Serbisierungs-Politik«, mit der Albaner aus allen wichtigen Positionen verdrängt wurden. Wer die fast acht Jahre alten Berichte und Analysen heute liest, erschrickt, wie präzise damals schon die Konfliktlinien beschreibbar waren und wieviel jeder von uns schon damals ohne allzu große Mühe hätte wissen können. Die Präsentation von Information ist aber nicht identisch mit ihrer Wahrnehmung und Rezeption. Die Konflikte schwelten weiter und eskalierten. Sie waren,, von einigen Ausnahmen wie Berichten über Massaker abgesehen, kein Thema, das bei uns große Beachtung gefunden hat. Auch für die evangelischen Kirchen gilt das. Es waren Wenige, die aufmerksam beobachteten, warnten, aber wer von denen, die heute in Deutschland Stellung nehmen, kann guten Gewissens behaupten, er habe die Brisanz der Probleme auf dem Balkan schon vorher erkannt und sich kundig gemacht? Erst die Bombenangriffe der NATO haben eine Veränderung der Wahrnehmung bewirkt. Und auf einmal bricht eine Flut von Stellungnahmen los, in der Theologen und Theologinnen, kirchlich Engagierte und Distanzierte die Stimme erheben. Die weitgehend mit Selbstdiagnosen der »Befindlichkeiten« nach der deutschen Vereinigung beschäftigten Intellektuellen in den Kirchen entpuppen sich plötzlich wieder als Weltpolitiker und Strategen. Durch die Abruptheit der Wahrnehmungsveränderung und die damit verknüpfte Kurzsichtigkeit der Perspektive kann dann der Eindruck entstehen, die Nato-Angriffe seien der eigentlich Grund allen Übels. Nach dem Ende des großen Ost-West-Gegensatzes versandete die Friedensdiskussion, auch in den Kirchen. Friedensseminare fielen mangels Teilnahme aus, und die »Arbeitshilfen« zum Thema verschwanden in den Archiven. Die neue Art der ethnischen Konflikte und »Bruchlinienkriege zwischen Gruppen unterschiedlicher Kulturen« (S. Huntington) sowie die dadurch notwendige Neuausrichtung von Strategien zur Friedensicherung war in Deutschland bestenfalls noch ein Randthema. Auch an den Beiträgen dieser Zeitschrift läßt sich das ablesen. 1994 verabschiedete der Rat der EKD »Orientierungspunkte für Friedensethik und Friedenspolitik«. Mit diesem Text wurde versucht, Impulse für eine Diskussion um die »verän-
Zeitschrift Fur Evangelische Ethik | 1996
Klaus Tanner
»Nun sag, wie hast dus mit der Religion?«die »Gretchenfrage« wird neu in der Philosophie diskutiert seit philosophische Institute, vor allem in den neuen Bundesländern, verstärkt die Aufgabe übernommen haben, Lehrerinnen und Lehrer für das Unterrichtsfach »Ethik« ausund berufsbegleitend weiterzubilden. Die Vermittlung von Wissen über die Religionen wird durch die Lehrpläne festgeschrieben. So mancher Studierende, der zunächst dachte, »Ethik« sei die Alternative zu »Religion«, sieht sich damit konfrontiert, sich auseinandersetzen zu müssen mit Bedeutung und Funktion religiöser Traditionen. Und so mancher Lehrende, der oft als »Wessi« in den Osten gekommen ist, von Instituten und Fakultäten, an denen die Religionsphilosophie bestenfalls eine marginale Rolle spielte, steht vor der gleichen Aufgabe. Der Verweis auf empirische, soziologische Daten über die Kirchenzugehörigkeit leicht, wenn auch ständig abnehmend in den alten Bundesländern, nur noch in Bruchstükken vorhanden nach dem mit repressiven Methoden durchgesetzten Atheismus im Ostenrückt dabei auf in den Rang eines begründenden Arguments dafür, daß die von den Philosophen verwalteten ethischen Lehrtraditionen an die Stelle der unsere Herkunftsgeschichte prägenden religiösen Traditionen treten müssen. Gegenwärtig läßt sich der Versuch einer neuen Kanonbildung beobachten, da im einzelnen noch keineswegs klar ist, an welchen Inhalten sich dieses Orientierungswissen für die »säkulare« Kultur bilden soll. Der Anspruch auf Zeitgemäßheit beziehungsweise auf Überlegenheit des durch Philosophie präsentierten Wissens gegenüber dem in den religiösen Traditionen verdichteten Wissen ist gekoppelt mit der Überzeugung, daß unter modernen Bedingungen die Philosophie der Ort vorurteilsfreier, vernünftig-rationaler und kritischer Reflexion sei. Demgegenüber erscheinen Formen der Reflexion auf religiöse Phänomene, die etwa in Gestalt der Theologie im Christentum ebenfalls eine lange Tradition haben, als vermodern, positioneil voreingenommen und tendenziell irrational. Zwei Traditionen von Urteilen über Religion, die beide an Muster der Religionskritik des 19. Jahrhunderts anknüpfen, können bei der Legitimation des Anspruchs auf Überlegenheit zusammenwirken. Für die staatlich verordnete Weltanschauung der DDR war das Bekenntnis zu einem Geschichtsglauben grundlegend, demzufolge »Geschichte« in einem Entwicklungsprozeß verläuft, in dem eine Weiterund Höherentwicklung möglich ist. Religion galt als Ausdrucksform niederer, zu überwindender Bewußtseinsstufen. Sie sei Folge von Unwissenheit beziehungsweise der Versuch, Vorgänge in Natur und Gesellschaft zu mystifizieren, die einer »objektiven« Erklärung zugänglich seien. Letztlich sei Religion nur Aberglauben: »In
Zeitschrift Fur Evangelische Ethik | 1995
Klaus Tanner
In der Sächsischen Zeitung war im Frühjahr letzten Jahres ein Interview mit einem bekannten Politiker abgedruckt. Unter anderem stand da: >>Wir müssen unseren Sozialstaat umbauen.« Was das heißt, darüber war dann wenig zu vernehmen. Der Befragte äußerte nur noch: »Das wird nicht mehr über die allgemeine Steuererhöhung gehen, sondern das wird mehr Engagement und mehr Beteiligung voraussetzen.« Der Interviewte war Joschka Fischer1• Die Spatzen pfeifen es von allen Dächern und mancher grüne Vogel zwitschert auch mit: Die Krise des Sozialstaates ist in allen politischen Lagern ein Thema. Es gibt schon heute eine große Koalition hinsichtlich der Überzeugung, daß die bisherige Form des Sozialstaates nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Das Ausrufen der Krise des Sozialstaates hat selbst schon eine Tradition. So war etwa 1978 in der Zeitschrift für evangelische Ethik zu lesen: »Über neue Ansätze in der Sozialpolitik ist in den vergangeneo Jahren viel geredet und geschrieben worden.« Der Autor Werner Steinjan benannte auch den Grund für diese Debatte: »Mit der Rezession tauchten Kostenprobleme wie Klippen bei Niedrigwasser auf.«2 Die Sozialstaatsdebatten sind immer Spiegel und Ausdruck des gesellschaftlichen Zustandes. Die Herausbildung des deutschen Sondermodells »Sozialstaat« war eng verknüpft mit dem Entstehen der Industriegesellschaft. Wenn sich diese Industriegesellschaft in einem radikalen Wandel befindet, dann ist es nicht verwunderlich, daß sich diese sozialen Umwälzungen auch in Sozialstaatsdebatten niederschlagen. Ich nenne nur einige Stichworte, die diesen Wandel anzeigen: Veränderung der Märkte durch die europäische Integration, durch neue Konkurrenten (Osteuropa). Die deutsche Vereinigung brachte enorme Veränderungen. Schließlich erleben wir einen tiefgehenden Strukturwandel der Produktion selbst, etwa durch neue Technologien. Es macht wenig Sinn, über »den Sozialstaat« an sich zu reden, so als wäre er eine hypostasierte Größe, die über den Wassern des gesellschaftlichen Chaos schwebt. Die in sich differenzierten sozialstaatliehen Regelungen sind immer Ausdruck gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse und Transformationsprozesse. Je nach sozialer Bezugsgruppe, beteiligten Interessengruppen, je nach Rechtsgebiet und Finanzierungssystem lassen sich dann unterschiedliche Spielräume sozialpolitischen Handeins ausmachen. Über die »Krise des Sozialstaates« wird in kirchlichen Kreisen diskutiert, weil ein großer Teil der kirchlichen Arbeit in Gestalt der Diakonie an eine bestimmte Form des Sozialstaates gebunden ist. Die beiden Kirchen sind durch ihre soziale Arbeit mit zu den größten Arbeitgebern in der BRD geworden. Allein im Bereich der Diakonie arbeiten ca. 350 000 hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in etwa 29000 Einrichtungen und Organisationen.
Praktische Theologie | 1992
Klaus Tanner
5. Glauben und Lernen sind nicht zwei entgegengesetzte Pole, wie die Aufklärung gern betonte. Glaube soll auch nicht in Lernen umgewandelt werden, wie die pädagogischen Prediger des neunzehnten Jahrhunderts gern wollten. Glauben lernt man oder erlebt man in einem Prozeß von Hören und Antworten, Gehorchen und Suchen nach eigenen Wegen, Nachfolge und Widerstand, Freude und Experiment. Der sonntägliche Gottesdienst kann ein Moment sein in diesem Prozeß.
Zeitschrift Fur Evangelische Ethik | 1990
Klaus Tanner
Im Zeitalter der Ökumene hat auch auf dem Gebiet der Ethik das Bemühen protestantischer und katholischer Theologen um Gemeinsamkeiten an Bedeutung gewonnen. Das wichtigste Beispiel für diese veränderte Diskussionslage ist das dreibändige »Handbuch der christlichen Ethik« (hg. v. A. Hertz, W. Korff, T. Rendtorff, H. Ringeling, 19791982). Bei vielen Einzelthemen gibt es heute Übereinstimmungen, etwa hinsichtlich der »Verantwortung für die Schöpfung« oder der Bedeutung des Sonntags. Gleichwohl weisen die Ethikdebatten in der römisch-katholischen Moraltheologie und der sehr viel weniger homogene Ethikdiskurs im Protestantismus signifikante Unterschiede auf. Wo es um Begründungsprobleme, den Ort ethischer Reflexion innerhalb der Theologie insgesamt und das Verhältnis theologischer Ethik zu außertheologischer Reflexion geht, sind die ethischen Diskurse noch stark durch alte konfessionsspezifische Differenzen geprägt. Besonders deutlich zeigt dies die Frage nach dem Naturrecht. Auch im Zeitalter des Streits um die »autonome Moral« bleibt die überkommene Naturrechtstradition der zentrale Bezugspunkt römischkatholischer Moraltheologie. Demgegenüber ist der Naturrechtsbegriff im Protestantismus weithin negativ besetzt. Seit jenen theologiepolitischen Auseinandersetzungen, die in den zwanziger und dreißiger Jahren um eine postliberale Neubegründung theologischer Ethik geführt worden sind, gilt wichtigen Gruppen im Protestantismus eine naturrechtliche Argumentation als theologisch illegitim, weil sie die christozentrische Exklusivität der Offenbarung relativiere. Diese dogmatische Kritik trug dazu bei, daß »Naturrecht« heute kein protestantisches Thema mehr ist. Die in der Gründungsphase der Bundesrepublik im Protestantismus geführte Naturrechtsdebatte, die wesentlich vom Eindruck des vermeintlichen Versagens des »Rechtspositivismus« gegenüber dem Nationalsozialismus sowie dem starken Einfluß desdeutschen KatholizismusaufPolitik und Rechtssprechung der neuen Bundesrepublik geprägt gewesen ist, ist in den sechziger Jahren allmählich im Sande verlaufen 1 • Dies hat eine Einschränkung der ökumenischen Kommunikationsfähigkeit protestantischer Ethik zur Folge. Mit Blick auf das Naturrecht kann von »konziliarer« Offenheit nicht gesprochen werden. Ein Blick auf wichtige Neuerscheinungen zur Naturrechtsthematik soll zeigen, welche Bedeutung der Naturrechtstradition außerhalb der protestantischen Theologie heute nach wie vor zukommt und welche Fragen einer neuzeitkompatiblen Grundlegung der Ethik unter ihrem Vorzeichen verhandelt werden. Damit wird zugleich ein thematischer Rahmen abgesteckt, den die protestantische Ethik, wenn sie die Naturrechtstradition aus dogmatischen Gründen verwirft, aufihre Weise füllen muß, will sie die allgemeine Kommunizierbarkeit ihrer Grundlagen sicherstellen. Programme zur Formulierung allgemeiner Geltungsansprüche müssen sich in der Moderne in ein Verhältnis zu den durch Kant definierten Reflexionsbedingungen setzen. Dies läßt sich auch an den neueren Interpretationen des Naturrrechtsdenkens in der katholischen Theologie zeigen. Protestantische Naturrechtskritik ist im 20. Jahrhundert weithin mit einer Kritik der von Kant grundgelegten Autonomievorstellung verbunden gewesen. Dadurch wird das aus der Naturrechtskritik erwachsende Kommunikationsproblem noch verschärft. Die protestantische Theologie steht damit vor der Frage, welche Korrektive sie entwickelt, die verhindern, daß universale Geltungsansprüche dogmatisch erzeugt werden, die sich in den empirischen und geschichtlichen Bezügen der Ethik nur noch appellativ beanspruchen, aber nicht mehr vernünftig ausweisen lassen.
Zeitschrift Fur Evangelische Ethik | 1988
Klaus Tanner
Im August 1945 wandten sich Vertreter der evangelischen Landeskirchen an die deutsche Bevölkerung mit einem »Wort zur Verantwortung der Kirche für das öffentliche Leben«: »Das furchtbare Ergebnis der vergangeneo zwölf Jahre hat weiten Kreisen innerhalb und außerhalb der deutschen Kirchen die Augen dafür geöffnet, daß da, wo Grundsätze christlicher Lebensordnung sich im öffentlichen Leben auswirken, die politische Gemeinschaft vor der Gefahr dämonischer Entartung bewahrt bleibt. Aus dieser Erkenntnis erwächst den evangelischen Kirchen Deutschlands die große und schwere Aufgabe, weit stärker als bisher auf die Gestaltung des öffentlichen Lebens und insbesondere der politischen Gemeinschaft einzuwirken« 1 • Einen ersten Schritt hin zur Wahrnehmung dieserneuen Rolle stellte das im Oktober desselben Jahres veröffentlichte Stuttgarter Schuldbekenntnis dar. In der Folgezeit nahm die EKD zu vielen politischen Problemen Stellung, die nur zu einem geringen Teil mit explizit kirchlichen Interessen verknüpft waren. Dies geschah zunächst in den sogenannten »Worten« der EKD; seit 1962 mit der Veröffentlichung »Eigentumsbildung und soziale Verantwortung« in der Form von Denkschriften. Dieser Wandel signalisierte auch einen Wandel im Verständnis des Politischen. Aus den >>Worten« »atmet(e) ... noch etwas von dem Geist der obrigkeitlichen Kundmachung an das Volk« • Die Denkschriften dagegen ließen ein Gesellschaftsverständnis erkennen, das >>eine nicht mehr nur äußerliche Affinität zum freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat westlicher Prägung« hat3 . Gleichwohl ist es bemerkenswert, daßtrotzdes 1945 formulierten hohen Anspruchs und der vielen politischen Aktivitäten ein entscheidendes Fundament für das politische Handeln nicht zum Gegenstand einer eigenen Erörterung gemacht wurde: die demokratische Verfassungsordnung. In dieser Tatsache spiegelt sich die Erbschaft eines politischen Protestantismus, der sich seit der französischen Revolution bewußt von der politischen Aufklärung Westeuropas abgesetzt und eine eigene, gleichermaßen spezifisch deutsche wie lutherische Staatstheorie entwickelt hatte. Dieser blinde Fleck in der politischen Ethik des Protestantismus führte dazu, daß die evangelischen Kirchen auf die Gestaltung des Grundgesetzes im parlamentarischen Rat weit weniger Einfluß nahmen als die katholische Kirche. Auch nach der Verabschiedung des Grundgesetzes war dieses entscheidende Dokument eines politischen Neubeginns den protestantischen Kirchenführern keiner eingehenden Würdigung wert. So konnte immer wieder über einen Mangel an »innere(r) Rezeption des demokratischen Prinzips« (Helmut Schmidt) in den Kirchen geklagt werden.
Archive | 1992
Friedrich Wilhelm Graf; Klaus Tanner